Die Begriffe "Stillen" und "Muttermilchernährung" werden häufig so benutzt, als seien sie austauschbar und würden das Gleiche bedeuten. Sie bezeichnen jedoch Unterschiedliches, und es lohnt sich, genauer hinzuschauen:
Muttermilchernährung heißt, dass das Baby Muttermilch bekommt. Dabei bezieht sich der Begriff ausschließlich auf das Produkt Muttermilch und sagt nichts darüber aus, ob das Baby die Milch direkt aus der Brust trinkt oder ob die Milch von Hand oder mit einer Pumpe gewonnen und mit Flasche, Becher oder auf andere Weise gefüttert wird.
Stillen hingegen bedeutet, dass das Baby Muttermilch aus der Brust trinkt. Damit ist also sowohl das Produkt Muttermilch als auch das Verhalten von Mutter und Kind beschrieben.
Macht Stillen oder Muttermilch aus der Flasche einen Unterschied?
Ja, es macht viele Unterschiede. (Literaturnachweise nummeriert in Klammern)
- Hautkontakt und Hormone: Beim Stillen sind sich Mutter und Kind unvermeidlich ganz nah. Sie haben direkten Hautkontakt miteinander. Dies wirkt sich u.a. auf hormoneller Ebene aus, die Oxytocinausschüttung wird angeregt. Dies wiederum fördert das Wohlbefinden, die Verdauung und die Bindung (11). Wird Muttermilch gefüttert, fehlt der Hautkontakt und die Hormonausschüttung ist niedriger.
- Sättigung: Babys können an der Brust sehr gut ihre Nahrungsaufnahme selbst regulieren (2). Dabei hilft ihnen die allmähliche Veränderung der Milchzusammensetzung: Wie bei einem Menü erhalten sie zunächst eine wässrige Suppe, dann einen Hauptgang, und wenn sie dann noch Hunger haben, ein sahniges Dessert. Muttermilch in der Flasche ist gemixt und hat von Anfang bis Ende die gleiche Zusammensetzung. Säuglinge, die im ersten halben Jahr häufig die Flasche bekommen hatten, zeigten später eine stärkere Tendenz, ihren Becher oder ihre Flasche ganz leer zu trinken, als Kinder, die ganz oder überwiegend gestillt worden waren. Dies war unabhängig davon, ob Muttermilch oder künstliche Säuglingsnahrung in der Flasche war (5). Mit der Flasche gefütterte Kinder zeigten im Alter von 3 bis 6 Jahren eine schlechtere Sättigungsregulierung als gestillte Kinder (3).
- Mütterliches Verhalten: Beim Stillen sieht eine Mutter nicht, wie viel ihr Kind trinkt und orientiert sich an seinen Äußerungen. Bei der Flasche lässt sich die getrunkene Menge auf den Milliliter genau ablesen. Dies fördert bei Müttern die Neigung, die Menge zu kontrollieren und das Kind zum Weitertrinken aufzufordern, sodass das Baby sich stärker nach der Mutter und weniger nach seinem inneren Sättigungsgefühl richtet. In einer Untersuchung von Li et al. zeigte sich dies noch bei 6 Jahre alten Kindern und ihren Müttern (7).
- Kiefer- und Muskelentwicklung beim Kind: Beim Stillen verwenden Kinder ein spezifisches Saugmuster, ihre Muskeln werden in physiologischer Weise aktiviert und eine gesunde Kiefer- und Zahnentwicklung gefördert. Der Masseter-Muskel, der kräftigste Kaumuskel, zeigte bei Flaschenfütterung eine deutlich niedrigere Aktivität als beim Stillen (4). Das Saugmuster beim Wechsel vom anfänglichen schnellen, flachen Saugen zum langsamen Saugen nach dem Einsetzen des Milchspendereflexes unterschied sich deutlich bei Brust und Flasche (8). Aus alledem resultiert ein deutlich höheres Risiko für Zahn- und Kieferfehlstellungen bei Flaschenfütterung (9).
- Sonstige Unterschiede: Es gibt erste Hinweise darauf, dass das Flaschefüttern als solches das Risiko für Atemwegserkrankungen erhöht (10). Das Risiko für übermäßige Gewichtszunahme könnte erhöht sein (1, 6).
Bisher wurde bei Studien fast nur danach gefragt, ob die Kinder Muttermilch oder/und künstliche Nahrung bekommen haben. In Zukunft sollte auch danach gefragt werden, auf welchem Weg sie die Muttermilch bekommen haben. Vermutlich werden dann weitere Unterschiede sichtbar.
Was folgt daraus?
- Es ist nicht egal, ob ein Kind gestillt wird oder Muttermilch aus der Flasche bekommt.
- Wenn Zufüttern notwendig ist, sollte dies bevorzugt an der Brust erfolgen.
- Kann ein Kind nicht oder nicht immer direkt gestillt werden, ist von Hand oder mit der Pumpe gewonnene Muttermilch das Nahrungsmittel der Wahl. Wichtig ist, Mütter in solchen unter Umständen schwierigen Situationen dabei zu unterstützen, ihr Kind mit Muttermilch zu versorgen; sie tun damit ganz viel für die Gesundheit ihrer Kinder – und auch für ihre eigene Gesundheit.
- Werbung für Milchpumpen suggeriert, dass das Abpumpen und Füttern von Muttermilch zum Stillen dazu gehöre und keinen Unterschied zum Stillen mache. Solche Werbung ist sachlich falsch und es ist ihr entschieden entgegen zu treten.
Setzen wir uns ein für das Stillen – und bei Bedarf für Muttermilchernährung!